Hundert Plus

Der Zustand eines Bauwerks ist – ähnlich dem von Menschen – mit fortschreitendem Lebensalter von einer immer schneller zunehmenden Degradation geprägt. Vorbeugende Maßnahmen gegen Alterung sind umso erfolgreicher, je eher sie ergriffen werden. Um die Nutzbarkeit komplexer Bauwerke zu verlängern, sind deutlich mehr Informationen zu einem viel früheren Zeitpunkt erforderlich als heute üblich. Um dieses Defizit drastisch zu verringern und zu einer prädiktiven Instandhaltung zu gelangen, bedarf es grundlegender Forschung zu den Methoden der Erfassung, Verknüpfung und Bewertung aller Daten zu Geometrie, Material, Beanspruchung und Alterung. Die Digitalisierung, insbesondere das Konzept des digitalen Zwillings, erlangt in diesem Kontext eine völlig neue Bedeutung. Sie ermöglicht die Kombination und Echtzeitauswertung sämtlicher für Betrieb und Instandhaltung erforderlicher Daten. Das Bauwesen steht hier jedoch vor besonderen inhaltlichen und methodischen Herausforderungen: Bauwerke, v. a. der Verkehrsinfrastruktur, sind immer Unikate. Sie sind geprägt durch enorme Dimensionen und haben eine erheblich höhere Lebensdauer als andere technische Anlagen. Ihre Änderungsrate infolge Deterioration ist sehr gering und somit kaum messbar. Diesen Herausforderungen widmet sich das SPP „Hundert plus“ in drei interdisziplinären Forschungsbereichen.

Forschungsbereich (1): Digitale Modelle

Der Bereich „Digitale Modelle“ entwickelt Methoden, um aus heterogenen Bestandsdaten von Ingenieurbauwerken, unterstützt durch digitale Bauaufnahmeverfahren, weitgehend automatisiert georeferenzierte, objektorientierte 3D-Modelle zu erzeugen, die neben der Geometrie auch semantische Informationen enthalten.

Für den Großteil der Infrastrukturbauwerke in Deutschland existieren keine digitalen Modelle. Zudem sind die Bestandsdaten sehr heterogen und reichen von unmaßstäblichen Skizzen über gescannte Pläne bis hin zu Bauwerksinformationsmodellen. Oft sind die Informationen widersprüchlich oder fehlerhaft. Infrastrukturbetreibern stehen zwar Rechentechnik und Strukturen zur Verfügung, um Bauwerksinformationen digital zu organisieren, jedoch werden die Daten unterschiedlicher Projektphasen häufig in unterschiedlichen Systemen vorgehalten und nur manuell in Beziehung zueinander gesetzt. Für Straßenbrücken werden bspw. Datenbanken wie die Straßeninformationsbank-Bauwerke (SIB-Bauwerke) genutzt, die aber keine bauteilbezogene Objektorientierung besitzen und nur eine begrenzte Informationsabbildung ermöglichen. Weiterführende Informationen und Dokumente zu ein und demselben Objekt sind wiederum nur aus analogen Handskizzen und archivierten Planunterlagen ableitbar.

Bestandsaufnahmeverfahren wie terrestrisches Laserscanning oder Photogrammetrie können die Datenlage deutlich verbessern und so die Modellbildung unterstützen. Auch Drohnen (Unmanned Aerial Vehicle, UAV) tragen zur Automatisierung der Zustandserfassung von Bauwerken bei.

Die Anwendung optischer Sensoren ermöglicht eine hochgenaue (3D-)Strukturerfassung kompletter Objekte. Eine entscheidende Rolle spielen dabei digitale optische Systeme (z. B. Laserscanner, Videotachymeter, 3D-Kameras etc.) für die Aufnahme und Überwachung dreidimensionaler Geometrien. Hier liegt der Forschungsfokus auf den verteilten Sensorsystemen zur kooperativen Erfassung und der Erarbeitung von stationären oder mobilen Multi-Sensor-Systemen.

Aus den aufgenommenen Punktwolken werden durch manuelles Nachzeichnen der Querschnitte oder Triangulation 3D-Volumenmodelle erzeugt. Hierauf aufbauend wird ein As-built-BIM-Modell mit großer Informationstiefe erstellt. Zur Erzeugung digitaler Bauwerksmodelle werden berechnende Methoden (Datenbeschreibung in Funktionen) und erklärende Methoden (Datenableitung aus gegebenen Randbedingungen) unterschieden. Der Übergang vom 3D- zum BIM-Modell wird durch die fehlenden semantischen Informationen erschwert. Parametrische und assoziative Beziehungen der Baugruppen und Bauteile können den Modellierungsprozess unterstützen. Die Anreicherung und Verknüpfung des BIM-Modells mit semantischen Informationen, weiteren Datenbanken und Dokumenten schafft die Basis für den digitalen Zwilling und damit für das digitale Erhaltungsmanagement von Infrastrukturbauwerken.

Daher ist neben dem Einsatz optischer Sensoren zur Erfassung der Oberflächencharakteristik eines Objekts auch die Fusionierung mit Sensoren, die einen Rückschluss auf den Aufbau des Objekts erlauben, ein wichtiger Forschungsbereich. Mittels selbstlernender Algorithmen (ML) oder Computer Vision (CV) werden aufgenommene Bilder verarbeitet. Die semantischen Informationen werden mit Hilfe von bildbasierten künstlichen neuronalen Netzen (KNN) in den Bildern gekennzeichnet. Verfahren, die auf der Bild- und Texterkennung basieren und ein automatisiertes Ableiten von Informationen aus den Ausführungs- und Bestandsplänen ermöglichen, können ebenfalls inkludiert werden.

Deutliche Forschungslücken im Bereich „Digitale Modelle“ zeigen sich gegenwärtig in der automatisierten Verarbeitung von heterogenen, analogen Bestandsunterlagen und v. a. deren Verknüpfung mit den Ergebnissen digitaler Bauaufnahmeverfahren. Neben der unzureichenden Automatisierung existieren zudem keine Methoden, in denen die Informationen zu Herkunft, Genauigkeit und Korrektheit der Eingangsdaten erhalten bleiben.

Forschungsbereich (2): Digitale Verknüpfung

Schwerpunkt des Bereichs „Digitale Verknüpfung“ ist, wie die zeitvarianten Zustandsinformationen des realen Objektes in Echtzeit aufbereitet und mit dem digitalen Zwilling verknüpft werden können.

Das Erhaltungsmanagement der Infrastruktur wird heute maßgeblich durch die Ergebnisse von manuellen periodischen Begutachtungen beeinflusst. Sowohl im Straßen- als auch im Eisenbahnbrückenbau sind alle sechs Jahre „handnahe“ Inspektionen normativ vorgeschrieben. Diese präventive Erhaltungsstrategie wird in Ausnahmefällen bei auftretenden Schäden durch ein Bauwerksmonitoring ergänzt. Damit können jedoch weder Ort noch Eintrittszeitpunkt eines Schadens prognostiziert werden. Problematisch für kontinuierlich messende Monitoringsysteme ist auch, dass wegen der großen Dimensionen und der hohen Individualität der Infrastrukturbauwerke keine allgemeingültigen Monitoringkonzepte möglich sind. Die Forschungslücke zeigt sich demnach in der Entwicklung eines prädiktiven Monitoringkonzepts bei zunächst unbekanntem Schadensort und -zeitpunkt. Für den digitalen Zwilling sind das Monitoringsystem und die periodischen In-situ-Inspektionen weitere essenzielle Bestandteile.

Ein aktuelles Forschungsfeld ist die optimale Sensorplatzierung. Während relevante Messstellen für statische Größen häufig mit A-priori-Modellen (z. B. FE-Modelle) festgelegt werden, werden bei der vibrationsbasierten Bauwerksüberwachung auch sogenannte Sensor Placement Optimization (SPO) Verfahren verwendet. Neben metaheuristischen Verfahren beschreibt der Effective-Independence (EI)-Ansatz einen effizienten iterativen Algorithmus, mit dem eine gegebene Menge an Sensorpositionen so lange reduziert wird, bis die optimale Sensoranzahl für eine hinreichende Zuverlässigkeit des Messergebnisses erreicht wird. Die Kombination aus optimaler Sensorplatzierung, drahtlosen Sensornetzwerken und Kosten sind ebenfalls forschungsrelevant.

Für die Schadensüberwachung bei zunächst unbekanntem Schadensort haben schallbasierte Verfahren ein großes Potenzial. Aktuell werden vermehrt ortsfeste Sensorsysteme am Bauwerk untersucht. Bei der Beschreibung unterschiedlicher Schadensmechanismen zielen die entwickelten Systeme auf die exakte Lokalisierung und die Ermittlung der Intensität eines möglichen Schadens ab. Ein wichtiges Forschungsgebiet sind bspw. Brücken mit spannungsrisskorrosionsgefährdetem Spannstahl. Hier hat die messtechnische Dauerüberwachung eine enorme Bedeutung, da durch die frühzeitige Detektion einzelner Spanndrahtbrüche ein plötzliches Bauwerksversagen vermieden werden kann.  Darüber hinaus werden Ultra-schall- und Impact-Echo-Verfahren untersucht, um Verpressfehler bzw. Hohlräume sowie Degradationserscheinungen zu lokalisieren und zu beobachten.

Gegenwärtige Forschungen im Bereich mobiler Sensorsysteme beschäftigen sich mit der Entwicklung von Sensorapplikationen auf beweglichen Plattformen (z. B. Drohnen oder Robotern) inklusive der Orientierung und Positionierung für die hochgenaue und schnelle Objektüberwachung. Aber auch konventionelle Messtechniken, wie das terrestrische Laserscanning oder die Videotachymetrie werden studiert, um Schäden an Brücken effizienter detektieren zu können.

Neben der Sensorik-Hardware ist für das Bauwerksmonitoring das Datenmanagement von essenzieller Bedeutung. Insbesondere die kontinuierliche Datenvorverarbeitung (z. B. Fehlererkennung, Datenplausibilisierung und -bereinung) bedarf noch umfassender Grundlagenforschung.

Aktuell werden hier neuartige Prozesse zur Datenerfassung (z. B. zur Bewertung der Datenqualität) entwickelt. Forschungsansätze zur Fehlerdiagnose zielen bspw. auf eine „analytische Redundanz“ des Structural Health Monitoring (SHM) und Modellfehler im Monitoringsystem ab.

Die Verknüpfung der Informationen aus In-situ-Inspektionen (Begutachtungen, zerstörungsfreie und zerstörende Prüfungen), Quasi-Echtzeit-Messdaten (SHM) und grafischer Darstellung (BIM) erfordert eine neuartige zentrale Plattform, die sämtliche Bauwerksinformationen integriert und einen Datenaustausch mit dem realen Objekt realisiert. Diese Informationen sind von jedem Nutzer jederzeit aktuell abrufbar. Erforscht werden muss jedoch, wie die kontinuierlich im Bauwerksmonitoring erfassten Daten in diese Plattform integriert und im Modell weiterverarbeitet werden können. Die gekoppelten Modelle werden hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit, Sicherheit und Robustheit untersucht. Diese zunächst auf das Bauwerksmonitoring abgestimmten Modellierungsansätze werden um Konzepte der Adaptivität bzw. der Strukturkontrolle erweitert.

Für die Darstellung und Anpassung des digitalen Zwillings werden in der Forschung als Grundlage oft Industry Foundation Classes (IFC) verwendet, die ein umfassendes und standardisiertes Datenformat für den softwareneutralen Austausch von digitalen Bauwerksmodellen ermöglichen. Aktuelle Forschungsbestrebungen verfolgen den Ansatz einer formalen IFC-basierten Abfragesprache, mit der Daten wie Struktur-, Bauwerks- oder Verwaltungsinformationen aufgerufen werden können, um Bauwerksmonitoringsysteme ganzheitlich und standardkonform mit dem IFC-Format zu beschreiben.

Forschungsbereich (3): Zustandsindikatoren

Um riesige Datenmengen unterschiedlichster Struktur und Herkunft (Big Data) automatisiert in eine vom Menschen schnell und weitgehend intuitiv erfassbare Zustandsinformation umzuwandeln, entwickelt der Bereich „Zustandsindikatoren“ wissenschaftliche Methoden für deren automatisierte Ableitung aus kontinuierlichen Messdaten und aus Daten der klassischen Instandhaltung und Inspektion. Die Zustandsindikatoren und ihre Prognose werden auf Grundlage physikalischer Modelle und auch rein datengestützt auf Basis mathematischer Modelle und mithilfe künstlicher Intelligenz entwickelt. In Anlehnung an sogenannte Key Performance Indicators (KPIs), die mit Hilfe einer Kennzahl einen Beurteilungsmaßstab in der Planung und Steuerung von Unternehmen bilden, beschreiben Zustandsindikatoren (Condition Indicators, CIs) einen informationsverdichteten Zustand einer Bauwerksstruktur oder einer technischen Anlage. Sie ermöglichen ein schnelles und intuitives Urteil in der Zustandsbewertung des Objekts. Im Zuge von „Industrie 4.0“ wird v. a. im Anlagen-bau, in der Luft- und Raumfahrt sowie der Fahrzeugindustrie an Instandhaltungsstrategien geforscht, die eine prädiktive Überwachung fokussieren. Das Vorgehen sieht zunächst eine Strukturierung der großen Datenmengen vor. Anschließend werden die analysierten Messdaten für die Entwicklung selbstlernender Algorithmen (z. B. Cluster-Analyse) herangezogen. Diese Informationen erlauben wiederum die Berechnung der Zustandsprognose des jeweils überwachten Bauteils. Für Bauwerke fehlen jedoch bisher wissenschaftliche Methoden für die Verarbeitung der relevanten heterogenen Informationen zu Zustandsindikatoren. Dazu sind messbare und quantifizierbare Performance Indicators (PIs) in Bezug auf die Brückenperformance zu definieren. Die hohe Anzahl der möglichen PIs kann durch eine übergeordnete Klassifizierung durch die Definition von KPIs reduziert werden. Wichtige KPIs sind bspw. die Zuverlässigkeit, Wartbarkeit oder die Bewertung aus der Bauwerksbegutachtung. Sie lassen sich in Hauptgruppen gliedern, in denen die einzelnen PIs numerisch bewertet und mit einem definierten Faktor gewichtet werden.

Anstelle des allgemeinen Begriffs Performance Indicator wird für die bauwerksstrukturspezifische Zustandsüberwachung das Synonym Zustandsindikator (condition indicator) eingeführt. In diesem Indikator sollen die gigantischen Datenmengen automatisiert zusammengefasst, aufbereitet und zu einer Zustandsinformation umgewandelt werden. Aufbauend auf der Messdatengewinnung und Informationsgenerierung im FB „Digitale Verknüpfung“ ist für den FB „Zustandsindikatoren“ neben der Datenanalyse und -aggregation auch die Daten- und Zustandsprognose essenziell. In der Datenanalyse werden die unterschiedlichen Messdaten miteinander verknüpft und logische Schlussfolgerungen gezogen. Methoden zur Beurteilung der automatisiert analysierten Messdaten sind Grundlage für die menschliche Entscheidungsfindung. Mit der Datenaggregation werden die Informationen gebündelt und Eingangsgrößen für die Algorithmen erzeugt, die zur Berechnung von Zustandsprognosen verwendet werden. Aus den Prognosen lassen sich bspw. Schadensvorhersagen treffen.

Aktuelle Forschungsarbeiten befassen sich mit modellbasierten und statistischen Ansätzen. Während erstere das physikalische System- und Messverhalten mathematisch beschreiben und sich besonders für die Datenanalyse eignen, werden rein mathematisch-statistische Ansätze wie z. B. überwachte und unüberwachte maschinelle Lernverfahren für die Datenaggregation genutzt. Geforscht wird v. a. hinsichtlich der mathematischen Beschreibung des physikalischen System- und Messverhaltens für die Zustandsprognose.

Datengetriebene Prognosemodelle werden ebenfalls stetig weiterentwickelt.

Neben rein messdatenbasierten Prognosen, die mit maschinellen Lernverfahren generiert werden, sind es v. a. physikalische Prognosemodelle, die mit SHM-Daten kombiniert werden. Letztere Methode ermöglicht eine Anpassung der bauwerksspezifischen Modellparameter. Die Prognose von Bauwerksreaktionen in Verbindung mit Bestands- und Monitoringdaten wird als FE-Update bezeichnet.

Das adaptive FE-Modell kann als Analogie zum maschinellen Lernen verstanden werden, welches darüber hinaus interpretierbar ist und zur Früherkennung von Schäden herangezogen werden kann. Aktuelle Forschungen zielen bspw. auf die Reduktion der hohen Rechenintensität und die Beschreibung strukturspezifischer Signalmerkmale ab.

Darüber hinaus werden sämtliche verfügbaren Bestandsunterlagen (Pläne, Nachrechnungen, Prüfbericht der Hauptprüfung, etc.) bereitgestellt. Außerdem ist für das Schwerpunktprogramm geplant, zusätzliche zerstörungsfreie Untersuchungen durchzuführen und diese Daten zentral bereitzustellen. Dazu gehören beispielsweise Radaruntersuchungen zur Überprüfung der Spanngliedlage, Betondeckungsmessungen, Betonfestigkeitsuntersuchungen, Messungen der Karbonatisierungstiefe und Chlorideindringtiefe. Diese Messungen werden in einem Randfeld konzentriert und durch stichpunktartige Messungen in den anderen Feldern ergänzt.

In der ersten Förderperiode des SPP wird am Bauwerk aus zentralen Mitteln ein initiales Monitoring installiert, welches in der zweiten Förderperiode gemäß den Empfehlungen der Teilprojekte ergänzt werden soll. Zunächst sind ca. 20 Messstellen an relevanten Punkten vorgesehen, dies sind Verschiebungsmessungen (z.B. an Fahrbahnübergängen), Dehnungsmessungen, Neigungsmessungen und Beschleunigungsmessungen. Die Daten werden mit einer Messfrequenz von 200 Hz aufgezeichnet. Klimatische Daten (Temperatur und Feuchte) werden in Intervallen von 10 Minuten erfasst. Die zentrale Messanlage wird dabei so ausgelegt, dass bei Bedarf aus den Teilprojekten eigene Messstellen ergänzt werden können. Diese zusätzlichen Messdaten sollen ebenfalls aufgenommen, übertragen und gespeichert werden. Die Übertragung, externe Speicherung sowie der Zugang zu den Daten wird durch das Koordinationsprojekt gewährleistet.