Unsicherheiten im Ingenieurwesen: Einblicke in die aktuelle Forschung
Am 21. August 2024 fand am Institut für Risiko und Zuverlässigkeit (IRZ) der Leibniz Universität Hannover der Workshop "Aktuelle Fortschritte in der Quantifizierung und Propagation von Unsicherheiten für ingenieurtechnische Strukturen und Systeme" statt. Die Veranstaltung, die sowohl in Präsenz als auch online abgehalten wurde, umfasste Beiträge von führenden Forschern und Nachwuchstalenten. Sie förderte wichtige Diskussionen über modernste Methoden zur Bewältigung von Unsicherheiten im Ingenieurwesen, einer Herausforderung von wachsender Bedeutung im Kontext moderner technologischer und ökologischer Anforderungen.
Was ist Unsicherheit, und was ist unsicher?
Wie in Abb. 1 veranschaulicht, werden Unsicherheiten im Allgemeinen als aleatorisch, resultierend aus inhärenter Zufälligkeit oder natürlicher Variabilität, oder epistemisch, resultierend aus unvollständigem Wissen, unzureichenden Daten oder ungenauer Modellierung, klassifiziert [1], [2], [3]. Aleatorische Unsicherheit wird typischerweise als irreduzibel, dem System und seiner Umgebung inhärent, betrachtet und oft stochastisch modelliert [3]. Beispielsweise beeinflussen dynamische Lasten wie Erdbeben- oder Windschwingungen ingenieurtechnische Strukturen, wie Brücken [4] oder Windkraftanlagen [5]. Im Structural Health Monitoring (SHM) – das der Überwachung von Schlüsselindikatoren die über den “Gesundheitszustands” eines Bauwerks dient – kann auch Sensorauschen, das nach erfolgreicher Kalibrierung akzeptabel ist, als aleatorische Unsicherheit modelliert werden [7]. Im Gegensatz dazu wird epistemische Unsicherheit als durch verstärkte Bemühungen zur Verbesserung der Datenqualität oder Modellierung reduzierbar angenommen [1], vergleiche Abb. 1.

Für Ingenieure ist es entscheidend, festzustellen, ob das Ausmaß der Unsicherheit in Schlüsselindikatoren ein potenzielles Risiko für die Sicherheit und Nutzbarkeit eines ingenieurtechnischen Systems darstellt. Dies beruht auf der Verwendung von Methoden zur Quantifizierung von Unsicherheiten und der effizienten Propagation dieser Unsicherheit durch ausgefeilte Modelle [3]. In Kombination mit Wichtigkeitsmaßen (z. B. aus Sensitivitätsanalysen) einzelner Komponenten ermöglicht dies die Identifizierung kosteneffizienter Maßnahmen zur Reduzierung der Unsicherheit auf ein akzeptables Niveau und gewährleistet somit eine angemessene Entscheidungsfindung.
Wichtige Highlights des Workshops
Der Workshop begann mit einer Eröffnungsrede des Leiters des IRZ, Prof. Michael Beer, der die internationalen Experten begrüßte: Prof. Vladik Kreinovich (University of Texas at El Paso, USA), Prof. Jian-Bing Chen (Tongji University, China) und Humboldt Fellow Dr. Mengze Lyu.

Quantifizierung von Unsicherheiten
Vielfältige Präsentationen und Diskussionen beleuchteten verschiedene Ansätze zur Quantifizierung von Unsicherheiten (UQ) und deren Auswirkungen auf verschiedene Disziplinen:
Unsicherheit in der Künstlichen Intelligenz: In seinem Hauptvortrag gab Prof. Vladik Kreinovich (UTEP, USA) Einblicke in die Untersuchung und Quantifizierung von Unsicherheiten, die sich in Modellen auf der Basis künstlicher Intelligenz ausbreiten, beispielsweise bei der Verwendung in ingenieurtechnischen Bewertungen.
Unsicherheit in der Strukturdynamik: Dr.-Ing. Marius Bittner (IRZ) demonstrierte einen justierbaren Schütteltisch für kosteneffiziente experimentelle Schwingungsprüfungen für die UQ-Forschung, integriert mit computergestützten Strukturdynamiksimulationen. Dr. Elias Said Rahimi (IRZ) diskutierte die Fragilität und Risikobewertung von modularen Gebäuden unter dynamischen Erdbebenlasten. Dr.-Ing. Marco Behrendt (IRZ) präsentierte eine Transformationsmethode für die Intervallunsicherheit vom Zeit- in den Frequenzbereich. Dr. Mengze Lyu (Humboldt Fellow) präsentierte einen neuartigen Ansatz für komplexe, nichtlineare, stochastische Systeme. Dr. Marcos Valdebenito, Mauricio Alejandro Masraji Lagos und Nataly Alejandra Manque Roa (TU Dortmund, Deutschland) diskutierten die Sensitivität in first excursion probability Analysen und den Umgang mit geometrischer Unsicherheit in isogeometrischen Strukturanalysen.
Propagieren von Hybriden Unsicherheiten: Niklas Schietzold (TU Dresden) befasste sich mit Herausforderungen bei der Propagation von Fuzzy-Feldern durch komplexe Modelle. Darüber hinaus präsentierte Dr.-Ing. Marc Fina (KIT, Germany) die polymorphe Unsicherheitsmodellierung in Modellen der Strukturmechanik.
Stochastische Modellaktualisierung: Thomas Potthast (IRZ) stellte eine neuartige stochastische Modellaktualisierungsmethode unter Verwendung von sliced normal maps vor, um die Genauigkeit bei unsicheren Simulationen zu verbessern. Dr.-Ing. Jan Grashorn (IRZ) diskutierte einen neuen Filteransatz zur Verbesserung der sequenziellen Zustandsparameterschätzung, wodurch die Zuverlässigkeitsanalysen in der dynamischen Systemmodellierung verbessert werden.
Unsicherheit im Structural Health Monitoring: Niklas R. Winnewisser (IRZ), der am SPP 100+ Teilprojekt D01 arbeitet, präsentierte einen vielversprechenden Ansatz zur Überwachung von Unsicherheiten in SHM-Sensorsystemen die durch Sensordegradation bzw. fehlfunktionen verursacht werden [6]. Durch die Verfolgung des Niveaus der epistemischen Unsicherheit (Abb. 1) können Ingenieure die Qualität der SHM-Daten dynamisch bewerten, Risiken abschätzen und Wartungsarbeiten am Sensornetzwerk priorisieren. Das Framework erkennt, lokalisiert und kompensiert Sensorausfälle durch Kreuzvalidierung zwischen Sensormessungen auf der Grundlage physikalischer oder datengesteuerter Modelle (Abb. 3 links).

Der Anstieg der Unsicherheiten kann wird durch den Vergleich mit einem Referenzzeitraum erkannt. In diesem Zeitraum wurde unter kontrollierten Bedingungen sichergestellt, dass das System frei von epistemischer Unsicherheit aufgrund der Sensordeterioration ist. Der Ansatz ermöglicht die Lokalisierung von Sensorausfällen, was durch eine Verringerung des erwarteten Vertrauens für bestimmte Sensoren erkennbar wird. Wie in Abb. 3. b) dargestellt, ermöglicht der implementierte Ausschlussmechanismus, der auf der Bewertung der Unzuverlässigkeit basiert, die Kompensation der Sensoranomalie. Dadurch wird ein niedriges Niveau epistemischer Unsicherheit für die Mehrheit der Messinstrumente aufrechterhalten, selbst im Falle eines gleichzeitigen Ausfalls mehrerer Sensoren. In Zusammenarbeit mit Prof. Steffen Marx (TU Dresden) und Jan-Hauke Bartels werden Weiterentwicklungen des Ansatzes mit geplanten Präsentationen auf der IABSE Symposium 2025 in Tokio und der IWSHM 2025 in Stanford und in darauf folgenden Publikationen vorgestellt [8], [9].
Förderung des nationalen und internationalen wissenschaftlichen Austauschs
Die zunehmende Häufigkeit und Schwere von disruptiven Ereignissen unterstreichen, wie wichtig es ist, dass Ingenieure mit innovativen Computerwerkzeugen ausgestattet sind, um Designindikatoren in komplexen ingenieurtechnischen Systemen in unsicheren Umgebungen zu bewerten, zu simulieren und vorherzusagen. Dies erfordert die Förderung des nationalen, europäischen und globalen Dialogs und der Zusammenarbeit. Das Institut für Risiko und Zuverlässigkeit verfolgt dieses Ziel und treibt die internationale Forschung voran, die theoretische Fortschritte und praktische Anwendungen integriert.
Das IRZ-Team freut sich darauf, Sie bei zukünftigen Workshops begrüßen zu dürfen. Darüber hinaus bietet die EURODYN 2026 (https://eurodyn2026.org), die Europäische Konferenz für Strukturdynamik, im "Welfenschloss" der Leibniz Universität Hannover eine weitere Möglichkeit, sich mit dem IRZ und Themen wie dynamische Strukturanalyse und inhärenten Unsicherheiten auseinanderzusetzen. Unterstützer dieser Veranstaltung sind Institutionen wie die European Association in Structural Dynamics und die American Society for Civil Engineering. Für mehr Informationen kontaktieren Sie den zuständigen Projektbearbeiter, Niklas R. Winnewisser, unter winnewisser@irz.uni-hannover.de.
Referenzen
[1] Kiureghian, A., and Ditlevsen, O. (2009). Aleatory or epistemic? Does it matter? Structural Safety, 31(2), 105-112.
[2] Beer M., Ferson S., and Kreinovich V. (2013). Imprecise probabilities in engineering analyses. Mechanical Systems and Signal Processing. 37(1-2): 4–29.
[3] Salomon J., Winnewisser N., Wei P., Broggi M., and Beer M. (2021). Efficient reliability analysis of complex systems in consideration of imprecision. Reliability Engineering & System Safety, 216, 107972.
[4] Andrés Arcones, D.; Weiser, M.; Koutsourelakis, P.-S.; Unger, J.F.: Uncertainty Quantification and Model Extension for Digital Twins of Bridges through Model Bias Identification. In: ECCOMAS 2024 – 9th European Congress on Computational Methods in Applied Sciences and Engineering, 3-7 June 2024, Lisbon, Portugal.
[5] Bartels J. H., Potthast T., Kitahara M., Marx S., and Beer, M. (2023). Robust SHM Systems Using Bayesian Model Updating. ISOPE 2024 – 34th International Ocean and Polar Engineering Conference, 19-31 June 2023, Ottawa, Canada.
[6] Winnewisser N. R., Potthast T., Mett F., Perin A., Broggi M., & Beer M. (2024). How to Be Certain: Using Known Relations and Trust Discount to Determine Confidence About the Degree of Uncertainty. EWSHM 2024 – 11th European Workshop on Structural Health Monitoring, 10-14 June 2024, Potsdam, Germany.
[7] Winnewisser N. R., Hoyer M., Bartels J. H., Mett F., Potthast T., Marx S., Beer M. (2025). How to Determine the Level of Epistemic Uncertainty and Exclude Faulty Sensors in Structural Health Monitoring Systems, submitted and accepted at IABSE Symposium Tokyo 2025 – International Association for Bridge and Structural Engineering, 18-21 May 2025, Tokyo, Japan.
[8] Hoyer M., Winnewisser N. R., Bartels J. H., Potthast T., Marx S., Beer M. (2025). Investigating Robustness in Detection, Localization, and Compensation of Sensor Malfunctions in Degrading Structural Health Monitoring Systems, submitted for review at IWSHM 2025 – 15th International Workshop on Structural Health Monitoring 9-11 September 2025, Stanford, California, USA.